News

04.10.2018

Enterprise-Architektur wird zum Richtungsgeber in der Digitalen Transformation

Ein Interview mit Dr. Johannes Helbig, dem Vorstandsvorsitzenden des Cross-Business-Architecture Lab, über die rasante Veränderung der Enterprise-Architektur und ihre Rolle in der Digitalen Transformation.

Was bedeutet Enterprise Architecture Management für das CBA Lab?

Die Enterprise Architektur definiert zurzeit ihre Aufgaben neu und entwickelt sich weiter, im Grunde zu einer Top-Management-Disziplin. Die Digitale Transformation ist jetzt im Zentrum der Wirtschaft angekommen und auf den Agenden der großen Organisationen wie unserer Mitgliedsunternehmen. Dabei hat sich der Fokus weiterentwickelt: Es geht nicht mehr so sehr um die Frage, wie man als Start-up die verrückteste disruptive Idee findet, sondern um die Management-Fähigkeiten, wie führe ich Transformation im Großen und als Daueraufgabe. Das wird wettbewerbsentscheidend, in welchem Maße, kann man nicht zuletzt ablesen an der jüngsten Börsenkursentwicklung von Facebook im Vergleich zu der von Amazon.

Wenn ich an EAM denke, stelle ich mir immer ein abgelegenes Büro vor, in dem die Wände von oben bis unten tapeziert sind mit Strukturgrammen, Ablaufplänen und ähnlichem. Ist diese Vorstellung falsch? Wie sind Enterprise-Architekten organisatorisch eingebunden und wie arbeiten sie?

Die Arbeitsweise der Architekten verändert sich gerade sehr stark. Hin zum Enablement, weg von der Governance. Für die Unternehmen, gerade die großen, stellt die Digitale Transformation eine extreme Herausforderung dar. „Software is eating the world“, ganz real. Von den top Fortune-500 Unternehmen des Jahres 2000-gehört heute die Hälfte nicht mehr dazu. Es geht um Geschwindigkeit. Digitalisierung polarisiert – sie stärkt die Stärken und macht die Schwächen offensichtlicher. Es war schon immer teuer, Strukturfehler zu machen, aber heute werden sie viel ernster bestraft. „The winner takes it all“.

Um schnell zu sein, brauchen Unternehmen die richtige Struktur und zwar eine sehr flexible, die die Veränderungsfähigkeit einer Organisation erhöht. Nur so können große Unternehmen so explorativ werden wie Start-ups: schneller Markteintritt, schnelle Adaption an frühes Kunden-Feedback, kurze Iterationszyklen. Sie müssen Märkte explorieren, für die sie keinerlei Erfahrungswerte haben, Märkte, die teilweise überhaupt erst neu geschaffen werden. Enterprise Architektur hat jetzt die Rolle, diese Strukturen zu schaffen,  hin zum „Composable Enterprise“, das seine Fähigkeiten sehr schnell neu orchestrieren kann, um mit hoher Geschwindigkeit neue Produkte oder Services zu erzeugen, die der Markt nachfragt. Amazon ist ein gutes Beispiel. Jeff Bezoz’ vielleicht wichtigste Maxime ist, dass alle unternehmensinternen Services auch zu vermarktbaren Produkten zusammengesetzt und externalisiert werden können. Amazon Web Services ist einmal aus internen Überkapazitäten entstanden.

In der Vergangenheit hat sich Enterprise Architektur darauf konzentriert, mit immer exakterer Planung Risiken einzudämmen. Aber der entscheidende Indikator für erfolgreiches künftiges Überleben eines Unternehmens ist nicht mehr Risikovermeidung, sondern Anpassungsfähigkeit. Management von Risiko wird zu Management von Uncertainty.  

Viele Unternehmen glauben, das Problem mit Innovation Labs lösen zu können. Halten Sie das für den richtigen Weg und wie funktioniert dann später die Integration der Innovation in das Unternehmen? Ist das auch eine Architekturfrage?

Das ganz wesentlich eine Architekturfrage, und zwar sowohl auf der technischen als auch auf der organisatorischen Seite.  Die wichtigste Aufgabe dabei ist es, eine Kohärenz der Aktivitäten zu erzeugen. Ja, viele Unternehmen leisten inzwischen gute Innovationsarbeit, aber es gelingt nur wenigen, diese Innovationen mit ihrem angestammten Kerngeschäft zu verbinden. Es ist ein bisschen wie im Fußball, bei der WM haben wir gerade erlebt was passiert, wenn  Angriff und Abwehr komplett auseinanderfallen. Die entscheidende Herausforderung ist hier Durchgängigkeit zu erzeugen, zwischen Angriff und Verteidigung, zwischen Innovation und Kerngeschäft. Und das ist eine Architekturaufgabe.

Wie orchestrieren sich Unternehmen, als  komplexes cyber-physisches Gesamtsystem?. Fast alle großen Unternehmen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten von der horizontalen Taylorisierung verabschiedet und divisionalisiert, in Richtung durchgehende, vertikale Verantwortung. Das setzt sich gerade auf tiefere Ebenen fort, in komplett produktzentrisch aufgestellte Teams, die autonom agieren, durchaus mit dem Risiko von Redundanzen. Die Mitarbeiter arbeiten vernetzt, genau so wie ihre digitalen Counterparts, die Software-Agenten; Hierarchie funktioniert nicht mehr, sie ist zu langsam. Das ist eine große Herausforderung, denn eine so starke Dezentralisierung macht eine passende Governance ja nicht leichter, sondern anspruchsvoller.

Was bedeutet „Kohärenz der Aktivitäten herstellen“  ganz konkret für den Enterprise-Architekten? Was tun sie? Suchen sie nach Synergien, nach Wiederverwendbarkeit? Damit Dinge nicht doppelt erfunden werden? Betten sie die neuen Services ein in einen Geschäftsplan oder eine -architektur?

Redundanzfreiheit und Stabilität stehen deutlich weniger im Vordergrund als Agilität, Anpassungsfähigkeit und Geschwindigkeit. Die Rolle der Architekten entwickelt sich gerade von einer zentralen Gatekeeper-Funktion zu einer beratenden Coaching-  und Moderations-Rolle in den Produktteams. Sie sind nicht mehr die Hüter langfristiger Bebauungspläne, die das Ist dokumentieren und als zentrale Controller an den Quality Gates die Compliance der Lösungen abstempeln. Stattdessen arbeiten sie begleitend in den Teams, wertschöpfungs- und lösungsorientiert. Die Grenze zwischen Fachbereich und IT weicht in der Digitalisierung ebenso auf wie die Stufengrenzen im Software-Entwicklungsprozess, Stichwort Devops. Zum ersten mal steht die IT nicht mehr quer zu den Fachbereichen, sondern parallel.

Die Produktstruktur ist die Primärstruktur. Aber Vertikalisierung der Eigenverantwortung setzt höhere Autonomie voraus. Technisch geht man dazu in Richtung  Microservices, die setzen im Grunde unser alte SOA-Prinzip der losen Kopplung auf immer kleinere Einheiten fort – ich speche deshalb manchmal auch von Micro-Divisionalisierung --;  Die semantische Kohärenz kann man dabei inzwischen über Data-Grids automatisiert erzeugen lassen. Organisatorisch  bilden sich über den vertikalen Produktteams – den „Squats“, wie sie z.B. in der Spotify-Organisation genannt werden -- matrix-ähnliche Zusatzstrukturen, die „Chapter“, die die Durchgängigkeit und inhaltliche Passung der agilen Einzelaktivitäten im Unternehmenskontext sicherstellen. Enterprise Architektur wäre dort ein Chapter.

Im CBA Lab sind mit Deutsche Bahn, Ergo, Bosch und anderen ganz klassische Unternehmen vertreten. Die sind nicht vergleichbar mit einer Spotify oder Amazon. Heißt das in der Konsequenz, dass sich in den klassischen Unternehmen Parallelorganisationen auftun?. Wie kann man sich das konkret vorstellen? Wie kommen diese Unternehmen von A nach B?

Bei allen unseren Mitgliedsunternehmen, über alle Branchen hinweg, beobachten wir derzeit enorme Transformations-Anstrengungen. Alle machen sich auf den Weg, viele stehen aber noch am Anfang.  Mit der Digitalisierung ist Enterprise Architektur im Zentrum strategischer Business-Transformation angekommen. Bei den Architekten herrscht eine große positive Aufbruchstimmung, sie fühlen sich nachgefragt und sind an der vordersten Front mit dabei. Zum Chefarchitekten wird damit im Grunde der CEO, denn er gestaltet und orchestriert die Transformation. Jemand wie Volkmar Denner von Bosch nimmt diese Rolle bewusst wahr. Er hat die Vision entwickelt: Bosch baut Konnektivität, und richtet jetzt das gesamte Unternehmen darauf aus, durchdekliniert über Produkte, Prozesse, Organisation, alles.

In Unternehmen wird selten von Architektur geredet, sondern das Management fordert flexible Plattformen, Customer Centricity oder wünscht sich eine Data driven Company. Architektur klingt dagegen immer ein bisschen nach Selbstbeschäftigung. Sehen Sie das Problem auch?

Ja, das Wort „Architektur“ ist etwas unglücklich gewählt, weil es eine statische Assoziation auslöst. Sie bringt die Aufgabe, nämlich das Managen von dynamischen Prozessen nicht wirklich zum Ausdruck. Ein Wort wie „Choreographie“ wäre dafür vielleicht passender. Aber die heutige Arbeit der Architekten hat sich massiv geändert, große Elfenbeintürme sind wirklich Vergangenheit.

Wie steht es um Beteiligung der Architektur am Innovationsprozess?

Die Architektur moderiert den Innovationsprozess an der Schnittstelle zur IT. Für die Unternehmen, die jetzt ihre alten Geschäftsmodelle verlieren, ersetzt Architektur nicht die klassische Businessstrategie in der Frage: wer will ich sein, und was leiste ich für meine Kunden. Aber die Architektur kann dann die Verknüpfungen ermöglichen, wie aus bestehenden Assets neue Leistungen werden. Data-driven Enterprise gewünscht? Es sind die Architekten, die verstehen, welche Daten benötigt werden, welche Prozesse diese generieren, von wo man sie extern beziehen kann. Maschinelles Lernen braucht zum Beispiel unglaublich viele Daten, um zu relevanten Mustern zu gelangen, die kann ein Unternehmen unmöglich allein vorhalten. Und oft entsteht Business-Innovation auch bottom-up aus der Archtitektur. Nehmen wir das populäre Thema Blockchain: Distributed Ledger ist ein Strukturansatz, das algorithmische daran ist absolut sekundär. Aus den abgeleiteteten Eigenschaften dieser Struktur entstehen dann bottom-up neue Geschäftsideen, z.B. für Finanztransaktionen ohne Mittelsmann, nicht etwa top-down aus „Business-Anforderungen“, eine solche Vorstellung ist Lehrbuch-Legende.

Wie werden die Architekturteams im Unternehmen organisiert – auch im Unterschied zum CIO-Office oder zum CDO? Gibt es da Muster, die man verfolgen kann oder ist das jedem Unternehmen selbst überlassen?

Wie eben erwähnt, der Trend geht eindeutig in Richtung dezentraler, produktzentrischer Organisationen. Die Grenze zwischen Business und IT löst sich auf, auch für die Enterprise Architektur. IT ist kein Sekundärprozess mehr, in der Digitalisierung ist IT the name of the game.Wir werden einen Struktur- und Kompetenzwandel sehen. Jahrzehntelang hat man IT, auch mental, outgesourct; in Zukunft muss jeder Top-Manager IT verstehen und zumindest in dem Sinne managen können, dass er die Wirkzusammenhänge einschätzen und IT als strategisches Instrument einsetzen kann. Entsprechend bin ich auch immer überrascht, wenn CDO und CIOs im Unternehmen getrennt aufgestellt werden. Die Daten im Data-driven Enterprise müssen von den Sensoren neuer Fertigungsprozesse und –Maschinen, neuer  Plattformprodukte generiert werden, das betrifft die Primärprozesse. Architekten müssen das Gesamtsystem denken können. Dessen Grenzen werden gleichzeitig immer weiter nach außen gezogen.

Was ja die Architektur noch einmal wichtiger machen würde.

Absolut. Der Scope ist viel größer geworden. Für heutige Produkte beginnt „das System“ im Wohnzimmer der Kunden – Beispiel Alexa – und reicht bis tief hinein in die Supply-Chain der Lieferanten. Digitale Plattformen führen Produkte und Dinstleistungen zu neuen Service-Angeboten zusammen, über Unternehmens- und Branchengrenzen hinweg. Enterprise Architektur betrifft nicht mehr nur das Enterprise, sondern die Orchestrierung der gesamten Wertschöpfungskette über diese Grenzen hinweg. Deshalb haben wir uns auch in Cross-Business-Architecture Lab umbenannt. Gleichzeitig dreht sich das Rad immer schneller. Höhere Drehzahl verbunden mit – um im Bild zu bleiben – mehr Masse außen durch die Dezentralisierung bedeutet größere Fliehkräfte. Enterprise Architektur muss das einfangen. Sie macht autonom agierende dezentrale Produktteams überhaupt erst möglich.

image
Dr. Johannes Helbig
Vorstandsvorsitzender
Cross-Business-Architecture Lab e. V.

Enterprise Architecture betrifft nicht mehr nur das Unternehmen, sondern die Orchestrierung der gesamten Wertschöpfungskette über alle Grenzen hinweg.